"Ich wohne direkt über der Badeanstalt", schreibt der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca an seinen Freund Lucilius. Römische Bäder - kunstvolle Kacheln, gedämpftes Licht, sanftes Wasser und der Duft von Eukalyptus. So mag man es imaginieren und den Impuls fühlen, entspannt auszuatmen. Seneca hatte sich zum Denken nach Baiae ans Mittelmeer zurückgezogen, einen der beliebten Kurorte der antiken römischen Welt. Ein Versprechen auf Stille, Ruhe und Einkehr - weit weg vom schon damals lärmbelasteten Rom. Vollpension mit Wellness-Oase, wie sich auch mehr als 2000 Jahre später Menschen noch sehnsuchtsvoll die Auszeit vom Alltag vorstellen: Sauna, Schwimmbad, Yoga, Fitness und Aussicht auf grandiose Natur. Doch dann das: "Stelle dir nun alle Arten von Stimmen vor, die dir die Ohren zum Hassobjekt werden lassen können: Wenn Kraftprotze trainieren und mit Bleigewichten belastete Hände schwingen, wenn sie sich abmühen - oder nur so tun als ob - dann höre ich Gestöhne und, sooft sie angehaltenen Atem ausstossen, Zischen und heftigstes Einatmen." Seneca berichtet Lucilius vom Klatschen der Hände eines Masseurs auf der glitschigen Haut seiner Kunden, vom Platschen der Körper, die es darauf anlegen, möglichst geräuschvoll ins Wasserbecken zu springen, und vom Kreischen, Johlen und Jauchzen der Menschen im Widerhall der Gewölbe. Römische Bäder - ein kulminierendes akustisches Inferno. "Ich vergehe, wenn zutrifft, wie es den Anschein hat, Stille sei für einen in Wissenschaft vertieften Menschen notwendig."
Auf leisen Sohlen kommt die philosophische Kritik des Seneca daher: Wenn..., ja, wenn es denn stimmt, was man im Allgemeinen so meint über die Stille, dann wäre er als stiller Denker wohl geliefert. Verkannt, vermisst, verloren soll sie sein. Jeder sucht sie. Keiner hat sie. Keiner hat sie mehr. Irgendwo war sie mal, die Stille. Vermeintlich. Aber vor zweitausend Jahren war sie auch schon nicht da, wo Seneca sie suchte. Stattdessen ist Lärm zu beklagen, wo Menschen sind. Lärm - der mächtige und erfolgreiche Widersacher der Stille. Als sich der christliche Glaube gegen die antike Götterwelt durchsetzte, brachte er auch die erste Dauerbeschallung bis in die Dörfer. Möglichst jeden Hügel krönten Christen mit einer Kirche. Die hatte eine Glocke, und die lärmte viel und ausgerechnet zu dem Zweck, Menschen zum Schweigen zu bringen. Wer Macht will, muss laut sein und andere in Rituale der Selbstbeschränkung binden.
Halt die Klappe und sei still
"Albernheiten aber, müssiges und zum Gelächter reizendes Geschwätz verbannen und verbieten wir für immer und überall", notiert der heilige Benedikt von Nursia 540 nach Christus in sein Klosterregularium, welches 73 Kapitel mit 925 Regeln umfasst. "Es herrsche grösste Stille" und die Überschreitung dieses Befehls hat Konsequenzen. "Findet sich einer, der diese Regel des Schweigens übertritt, werde er schwer bestraft." Von den Lärmgeplagten, die heutzutage stille Einkehr in leeren Klöstern suchen, wird der geistige Zusammenhang zwischen Machtfülle und Schweigegebot, der nicht zuletzt die akustisch einschüchternde Architektur von Kirchenräumen inspirierte, nicht bewusst wahrgenommen. Kloster bedeutet nur mehr Regeneration vom lärmigen Leben.
Der Anfang vom Lärm der Gegenwart wird in Europa gerne dem Industriezeitalter zugeschrieben. Das Rattern der Webstühle, das am Ende des 18. Jahrhunderts die erste industrielle Fertigung von Stoffen begleitete, ist die Ouvertüre zu einem anschwellenden Konzert mit Instrumenten aus Eisen, Stahl und Glas. Anfang des 20. Jahrhunderts drehen einige Grossstädter nervlich durch, wenn sich über diesen Grundton hinaus noch ein Nachbar erdreistet, im Innenhof seinen Teppich auszuklopfen. Zunehmende Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen bekommt den Namen "Neurasthenie" und ein bürgerlicher "Antilärmverein" erklärt Trillerpfeifen und klappernden Mülldeckeln den Krieg. 1908 schreibt sich der deutsche Schriftsteller Theodor Lessing in einer "Kampfschrift" auf über 50 Seiten in Rage gegen Geräusche. Getöse, konstatiert er abschliessend, sei Ausdruck des Primitiven. Verkürzt gesagt: Kultur heisst akustische Kontrolle und Klappe halten. Das ist beachtenswert, denn im Umkehrschluss ist dann ausgerechnet die Natur Ausdruck des Lauten.
Sehnsucht nach einem Dasein, das nicht da sein darf
Stille. Sie ist ein Phänomen, das Menschen immer dort diskutieren, wo menschlich erzeugter Schall ist. Sie glänzt durch Abwesenheit, wird aber als unbedingt nötig für das menschliche Dasein beschrieben. Wie kann das zusammen gehen? Wie kann der Mensch die Stille so sehr suchen und doch unter seinesgleichen nirgends finden? Wo soll Stille denn sein? Immer da, wo du, Mensch, nicht bist? Macht das Sinn? Kultivierte Einsiedelei in der Natur bringe Stille, berichten Suchende. Doch stillschweigend trennen sie damit den Menschen von seiner Natur, die wie Regen, Wind und Wasser auch nicht still ist. Jedes Lebewesen lärmt - schlicht, weil es da ist. Der Mensch flieht vor den Verlautbarungen seiner Art, aber seine Flucht in die Winkel der Erde, wo Mensch dem Menschen nicht begegnet, gelingt bei knapp acht Milliarden Artgenossen kaum noch. Also Abtauchen in den Tank? Floating - eine Erfindung aus der Hippie-Zeit - wirbt mit Isolation in konzentriertem Salzwasser und dem Entzug visueller und akustischer Reize. Doch auch diese Reise zurück in eine Art Mutterleib ist bei vollem Bewusstsein nicht still. Schallisoliert hört ein Mensch den Lärm seiner Existenz: Herzschlag, Magen und Darmbewegung, das Rauschen des Blutes, das Fiepen im Ohr.
Wohin also, Seneca? Wohin mit meiner alten Sehnsucht nach stiller Umgebung? "Es gibt keine liebliche Ruhe ausser der, in die uns die Vernunft versenkt", schreibt der Philosoph. "Ich zwinge meinen Geist, nur auf sich gerichtet zu sein und sich nicht von allem Äusseren ablenken zu lassen." Da draussen ist immerwährend die Lautsphäre des Lebendigen. Stille ist ein inneres Sehnen und Suchen menschlicher Existenz. Ruhe im Trubel bringt dem Menschen vielleicht sein wertvollstes Vermögen: das konzentrierte Denken.
Text: Bettina Mittelstraß
Foto: Hanes Sturzenegger